Begleiten Sie Henry Dunant auf seiner Werbereise für die erste Genfer Konvention 1863

Im Herbst 1863 brach ich zu einer Reise auf, die mich auf 3000 Kilometer durch halb Europa führte1

 

Und ich kann sagen, dass ohne diese Reise die Genfer Konvention vielleicht gar nicht zustande gekommen wäre.

Wie es dazu kam?

Meine Genfer Mitstreiter2 und ich wollten unsere Ideen zum Schutz der Verwundeten im Krieg an einer Wohltätigkeits-Konferenz präsentieren. Doch die wurde kurzfristig abgesagt.

Also beschlossen wir, selbst eine Internationale Konferenz abzuhalten.

In zwei Monaten!

Experten aus möglichst vielen Staaten sollten nach Genf kommen und über ein Abkommen3 beraten, das Verletzte im Krieg schützt.

Ich machte mich auf die Reise und überzeugte in unzähligen Gesprächen Königinnen, Militärärzte und Kriegsminister von unserer Idee.

Die erste Station war Berlin4.

Berlin: Internationaler Kongress für Statistik.
Mein Freund Johan Bastings5 hatte mich eingeladen.

Ich wollte die Militärärzte für unser Anliegen gewinnen. Sie kennen die Probleme der Versorgung von Verwundeten6 in einer Schlacht.

Das heisse Thema war die Neutralisierung.

Die Idee ist folgende: Das Sanitätspersonal und die Verletzten sind neutral7. Sie sind nicht Teil des Kampfes und dürfen nicht angegriffen werden. Genial, oder? So kann den Verletzten viel besser geholfen werden!

Die Militärärzte sahen die Vorteile einer solchen Neutralisierung. Also schrieb ich an alle Adressaten der Konferenz, dass auch dieses Thema an der Konferenz beraten wird.

Meine Mitstreiter im Fünferkomitee waren gar nicht begeistert8. Ich hatte im Namen des Fünferkomitees geschrieben, aber die anderen vier gar nicht gefragt. Sie fanden die Idee der Neutralisierung völlig utopisch. Warum mussten sie denn immer so vorsichtig sein?

Ich konnte die Leute doch begeistern. Sie sahen ein, dass gegen das unmenschliche Elend der Verletzten im Krieg etwas unternommen werden muss.

Kronprinz Friedrich9 zum Beispiel den ich in Berlin traf. Er sagte zu mir:

«Meine Mutter und ich teilen ihre Ansichten mit Begeisterung! Wir schicken einen Delegierten für Preussen an die Konferenz!»

Oder das Galadiner10 beim Preussischen Innenminister: Ich erklärte meine Tischnachbarn die Wichtigkeit eines Abkommens für die Verletzten. Sie gingen alle zurück und warben für unsere Konferenz in Genf.

Berlin→Dresden11

In Dresden traf ich König Johann von Sachsen. Er versprach mir seine Unterstützung für die Konferenz.

Ich platzte fast vor Freude! Wenn der überall in Europa geachtete König Johann uns unterstützt, hatten wir viel gewonnen12.

Dresden→Wien13

In Wien traf ich den Ministerpräsidenten14, er sicherte mir seine Unterstützung zu.

Wien→München15

Meine Kontakt in Bayern war Freiherr von Prankh16, der zunächst nicht begeistert war.

«Wie! Mein Herr! Auf Ihr Ersuchen soll ich einen bayrischen Vertreter nach Genf schicken, zu einer Versammlung, die von Ihnen und andern mir unbekannten Privatleuten einberufen ist!»

Ich überzeugte ihn mit dem Argument, dass andere bedeutende deutsche Königshäuser ebenfalls einen Vertreter nach Genf schicken.

Danach ging es flott weiter…

Eine Woche vor unserer Konferenz kehrte ich nach Genf zurück. Ich war sehr zufrieden mit dem Resultat. Auf meiner Reise hatte ich Vertreter von zwölf Staaten für die Teilnahme an der Konferenz20 gewonnen.

Das wars mit meiner Reise19.

Hier gelangen Sie zurück zum Start

31.08.1871

Abb. 01 Bahnkarte Deutschland, 1861

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Eisenbahnnetz in Europa mit Hochdruck ausgebaut. Die Karte von 1861 zeigt bereits ein gutes Liniennetz zwischen den grösseren Städten.  Wenige Jahre zuvor hätte Dunant noch mit Kutschen reisen müssen und seine Route wäre unmöglich in dieser Zeit zu bewältigen gewesen.

Die fünf Gründungsmitglieder des «Comité des secours aux blessé» trafen sich im Februar 1863 zu einer ersten Sitzung. In nur wenigen Monaten entwickelte das Komitee Dunants Ideen zu konkreten Vorschlägen weiter, die an den beiden Genfer Konferenzen 1863 und 1864 diskutiert wurden. Erst 1876 gab sich das Komitee seinen heutigen Namen Comité International du Croix Rouge.

Abb. 02 Louis Appia

War Chirurg, der sich unter anderen nach der Schlacht von Solferino für die Versorgung Verwundeter einsetzte. Er beschäftigte sich mit Militärmedizinischen Fragen, entwickelte unter anderem ein Gerät zur Ruhigstellung von Gliedmassen beim Abtransport von Verletzten. Er brachte eine breite praktische Erfahrung mit der Versorgung Verletzter im mit in die Kommission.

Abb. 03 Guillaume Henri Dufour

Dufour hatte als Kartograf, Ingenieur und General bereits ein ausgezeichnetes Renommee, als er den Vorsitz des Komitees übernahm. Er fühlte sich der Linderung der Kriegsgräuel moralisch verpflichtet. Bereits als General im Sonderbundskrieg 1847 hatte er die Truppen aufgerufen Zivilbevölkerung, Gefangene und Verletzte zu schonen.

Abb. 04 Gustave Monyier

Der Jurist Moynier war Präsident der Gemeinnützigen Gesellschaft in Genf und überzeugte diese, Dunant bei der Umsetzung seiner Ideen zu unterstützen. Als Jurist trug er viel zur Strukturierung der Ideen innerhalb des Komitees bei und prägte die Ausarbeitung der Genfer Konvention entscheidend. Ein Jahr nach der Gründung des Komitees übernahm er den Vorsitz und blieb über vier Jahrzehnte IKRK-Präsident.

Abb. 05 Theodor Maunoir

War ebenfalls Chirurg und der Mentor Louis Appias. An der ersten Genfer Konferenz 1863 konnte er mit einer überzeugenden Rede den Einsatz ziviler Hilfstruppen verteidigen, der fast am Widerstand der französischen Delegation gescheitert wäre.

Genfer Konvention, Entwurf des Fünferkomitees, 1863

 

Allgemeine Bestimmungen

 

Art. 1 Es besteht in jedem der sich anschliessenden Länder ein nationaler Ausschuss, dessen Aufgabe es ist, mit allen in seiner Macht stehenden Mitteln dem ungenügenden amtlichen Gesundheitsdienst bei den Heeren im Felde zu Hilfe zu kommen.

Der Ausschuss bildet sich in der Weise, die ihm am nützlichsten und angemessensten erscheint.

 

Art. 2Sektionen können sich in unbeschränkter Zahl bilden, um den Nationalausschuss zu unterstützen. Sie sind notwendig diesem Ausschuss unterstellt, dem allein die Oberleitung zukommt.

 

Art. 3Jeder Nationalausschuss setzt sich mit der Regierung seines Landes in Beziehung und versichert sich, dass seine Dienste im Kriege angenommen werden.

 

Art. 4Im Frieden beschäftigen sich die Ausschüsse und Sektionen mit den in der Einrichtung von Ambulanzen und Spitälern und den Transportmitteln für die Verwundeten einzuführenden Verbesserungen und sind darauf bedacht, dass sie ins Leben treten.

 

Art. 5Die Ausschüsse und Sektionen der verschiedenen Länder können sich zu internationalen Kongressen vereinigen, um sich ihre Erfahrungen mitzuteilen und sich über die zum Besten der Sache zu ergreifenden Massnahmen zu verständigen.

 

Art. 6Im Januar alljährlich reichen die Nationalausschüsse einen Bericht über die im Laufe des Jahres unternommenen Arbeiten ein, womit sie die Mitteilungen verbinden, die sie zur Kenntnis der Ausschüsse der anderen Länder gebracht wissen möchten. Der Austausch dieser Mitteilungen und der Berichte wird durch Vermittlung des Genfer Ausschusses, an den sie gerichtet werden, bewerkstelligt.

 

Besondere Bestimmungen für den Krieg

 

Art. 7Im Krieg leisten die Ausschüsse der kriegführenden Völker die ihren Heeren nötige Hilfe und nehmen besonders Bedacht auf die Bildung und Abordnung von Abteilungen freiwilliger Krankenpfleger. Sie können die Unterstützung von Ausschüssen neutraler Nationen in Anspruch nehmen.

 

Art. 8Die freiwilligen Pfleger verpflichten sich, eine bestimmte Zeitlang zu dienen und sich auf keine Weise in die Kriegsoperationen einzumischen. Je nach Wunsch werden sie zum Feld- oder Spitaldienst verwendet. Die Frauen sind auf den letzteren angewiesen.

 

Art. 9Die freiwilligen Wärter tragen in allen Ländern eine Uniform oder sonst ein gleichartiges Unterscheidungszeichen. Ihre Person ist unverletzlich und die Heerführer schulden ihnen Schutz.

 

Art. 10Die freiwilligen Wärter ziehen den Heeren nach und dürfen ihnen weder Kosten noch sonst eine Belästigung verursachen. Sie haben ihre eigenen Transportmittel, ihre Lebensmittel, ihre Vorräte an Arznei- und Hilfsmittel jeder Art. Sie werden den Heerführern zur Verfügung gestellt, die nur, wenn es ihnen nötig dünkt, Gebrauch von ihnen machen. Im wirklichen Dienst sind sie unter die Befehle der Behörden gestellt und derselben Mannszucht wie die gewöhnlichen Wärter unterworfen.

Brandenburger Tor, 1857/60. Fotografie von Gustav Schauer, Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V.

Johan Henrik Christiaan Bastings (1817-1870)

Bastings war niederländischer Armeearzt, als er Dunants «Eine Erinnerung an Solferino» las. Begeistert von den Dunants Ideen übersetzte er das Werk ins Niederländische.
Dunant folgte 1863 Bastings Einladung an den statistischen Kongress in Berlin, da sich dort viele europäische Militärärzte versammelten. Dunant bereitete eine Rede für die Konferenz vor, die Bastings für ihn auf Deutsch vortrug. Bastings unterstützte Dunant entscheidend im Entschluss, die Neutralisation der Sanitätsdienste an der Genfer Konferenz zu thematisieren.

Die Schlacht von Solferino 1859

Die Schlacht war Teil des italienischen Unabhängigkeitskampfs. Damals kontrollierte die Habsburgermonarchie die Lombardei und Venetien. In mehreren Schlachten kämpften Truppen des Königreichs Sardinien-Piemont, unterstützt durch die Franzosen, für die Vorherrschaft in Norditalien. Der Sieg über die österreichischen Truppen in der Schlacht von Solferino ebnete den Weg zu Italiens Einheit.

Neutralisierung

Das Sanitätspersonal war bisher Teil der Truppen. Die Militärärzte wussten aus eigenen Erfahrung, wie fatal dies während einer Schlacht ist. Sie mussten sich vor Angriffen schützen, allenfalls mit den Truppen fliehen und die Verletzen, die sie eben noch gepflegt hatten, hilflos zurücklassen.

Die Idee der Neutralisierung von Ärzten und Verletzten war nicht ganz neu. In früheren Jahrhunderten war sie bereits vereinzelt in Konflikten bilateral von den Kriegsführenden vereinbart worden.

Gefährliche Idee?

Dunant ist euphorisiert von der Unterstützung, die seine Idee der Neutralisierung unter den Militärärzten in Berlin erhielt. Er setzt ein Rundschreiben auf, lässt es 500-mal drucken und verschickt es an alle Adressaten der geplanten Genfer Konferenz. Er unterschreibt im Namen des ganzen Fünferkomitees, in Wahrheit informiert er seine Mitstreiter in Genf erst im Nachhinein.
Diese schäumen vor Wut. Was war bloss in Dunant gefahren? Wie konnte er eine eigenmächtige Idee im Namen des Komitees in die Welt hinaus senden?
Noch schlimmer aber war die Angst, dass Dunant mit seinem Schreiben die ganze Konferenz gefährdet. Fordert er mit der Neutralisierung der Sanitätsdienste nicht das Unmögliche? Was, wenn nun keine Einigung zustande kommt oder die Regierungen der Konferenz gleich ganz fernbleiben?
An der Konferenz stellt sich heraus, dass die Neutralisierung tatsächlich ein umstrittenes Thema war, das aber mehrheitlich Zustimmung fand.

Im Wortlaut hiess der umstrittene Passus des Rundschreibens:
«Die Regierungen möchten erklären, dass künftig das militärische Personal und die von ihm abhängigen Personen, mit Einschluss der anerkannten freiwilligen Helfer von den Kriegführenden Mächten als neutrale Personen betrachtet werden.»

Kronprinz Friedrich (1831-1888)

Kronprinz Friedrich wurde nach 28 Jahren als Kronprinz für 99 Tage zu Friedrich III, König von Preussen, bevor er an Kehlkopfkrebst starb. Er und vor allem seine Mutter Augusta, die Königin von Preussen, blieben über Jahre treue Unterstützer Dunants.

Henry Dunant gefiel sich in der Nähe des europäischen Adels. Als er 1863 auf seiner «Werbereise» Friedrich ein erstes Mal traf, fragte er auf dem Heimweg in der Kutsche Frau Bastings:
«Und, wie sah ich aus, als ich mit dem Kronprinzen sprach?» Sie erwiderte: «Für einen Mann, der von sich sagt, dass er nur für das Lob Gottes arbeite, legen Sie viel Wert auf das Lob des Menschen.»

 

Bild: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Andres Kilger

Quelle: Müller: Entstehungsgeschichte, S. 107ff, Giampiccoli, Dunant, 86

Dresden, Augustusbrücke 1865

Geschickter Schachzug

Der diplomatisch begabte Dunant versandte noch in der gleichen Nacht Briefe an Kontaktpersonen in ganz Europa, um die Unterstützung König Johanns bekannt zu machen. Er kalkulierte, dass andere Staaten die Konferenz nun ebenfalls unterstützten, um nicht abseits zu stehen.

Wien Westbahnhof, Ausfahrtsseite, 1859

Erzherzog Rainer Ferdinand (1827-1913). War der Cousin des damaligen Kaisers Frank Joseph.

Münchener Bahnhof, 1854

Siegmund von Pranckh

(* 5. Dezember 1821 in Altötting; † 8. Mai 1888 in München) war ein bayerischer General der Infanterie und Kriegsminister. Durch seine Heeresreform ermöglichte er die bayerischen Siege im Deutsch-Französischen Krieg.

Stuttgarter Schlossplatz, 1863

Darmstadt, 1866

Schloss Karlsruhe, 1881

Vom 26.-29.10.1863 tagten Delegierte aus 16 Staaten in Genf. Sie einigen sich auf die Gründung von zivilen Hilfskomitees, die mit einem roten Kreuz auf weissem Grund gekennzeichnet sind. Als Wunsch wird die Neutralisierung von Helfenden und Verletzten formuliert. Ein Jahr später findet auf diesen Grundlagen eine Diplomatenkonferenz in Genf statt, sie ist die Geburtsstunde des Humanitären Völkerrechts

Bild: Das Gemälde von Charles Édouard Armand-Dumaresq zeigt die Unterzeichnung der ersten Genfer Konvention am 22.08.1864 im Stadthaus von Genf.

Abb. 06 Faksimile des Originals der ersten Genfer Konvention, 1864

Idee, Projektleitung
Kaba Rossler & Nadine Schneider, imachine projekt ag

 

Recherche, Drehbuch
Dominique Frey, nicca.

 

Konzept und Realisation, Grafik
Data-Orbit

 

Programmierung
Romain Granai